„The silent seat“ oder: Die Kunst des geschlossenen Systems

  • Vom 28. Juli 2024

Sind Sie in Berlin schon einmal mit dem Bus gefahren?

Jüngst unternahm ich mit meiner 4-jährigen Tochter einen Ausflug in den Zoo und wir nahmen den Bus. Wir lösten ein Ticket und retteten uns, bepackt mit Roller und Rucksack, auf den Sitz hinter dem Fahrer, der losfuhr, kaum dass wir bezahlt hatten.

Für eine kurzweilige Fahrt spielten wir das Lieblingsspiel meiner Tochter: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“. In einem fahrenden Bus ist das Spiel noch lustiger, denn ehe man die Dinge, die der andere gesehen hat, erraten kann, sind sie schon wieder weg – zur hellen Freude meiner Tochter, die vergnügt vor sich hingiggelte.

Das erste Mal unterbrochen wurde unser heiteres Spiel in gemäßigter Lautstärke durch eine brummige Durchsage des Fahrers, die kaum jemand im Bus verstand. Man blickte sich verstört um – und nahm auf, womit man sich die Busfahrt vertrieb.

Zweimal wurde unser Spiel auf diese Weise gestört. Beim dritten Mal hielt der Busfahrer an, öffnete die Tür und wetterte – diesmal deutlich vernehmbar – in die Sprechanlage, dass ich entweder aussteigen oder mich umsetzen möge. Und ob ich denke, der Bus würde mir gehören, bloß durch den Erwerb eines Einzeltickets.

Ich war geschockt und blickte in ebenso ratlose Gesichter um mich herum. Unser Spiel war wahrlich nicht raumfüllend und geprägt von Herz öffnendem Kinderlachen.

Ich stand wortlos auf, nahm meine Tochter an die Hand, unser Gepäck in die andere – und wechselte den Platz. Der Busfahrer schimpfte weiter (in wenig gewählten Worten). So erfuhr ich, dass ich frech sei und er seine drei Kinder im Griff hätte. Unweigerlich erschienen vor meinem geistigen Auge die Kinder des untersetzten Fahrers, wie er sie im Würgegriff zum Gehorsam zwang. Nein, derart habe ich meine Tochter nicht im Griff.

Der Fahrer hatte die Fahrt wieder aufgenommen, aber brüllte weiter in die Anlage. Als er an einer Ampel hielt und eine Atem- und vermutlich Denkpause einlegte, beugte ich mich in den Mittelgang und sprach laut und deutlich:

„Vielleicht sollten Sie Ihren Job wechseln, wenn Sie das Leben im Bus überfordert.“

Jetzt war er sprachlos und brabbelte wieder undeutlich ins Mikrofon. Die Frau neben mir gratulierte mir zu meinem Mut. Der junge Mann uns gegenüber hielt den Daumen hoch und grinste.

Ich hörte stillen Beifall und Aufatmen im Bus. Nein, ich habe mich nicht mit ihm gestritten, ging nicht auf seine Anschuldigungen ein, habe mich nicht provozieren lassen. Denn zum einen hatte all das nichts mit mir zu tun. Ich war nur seine Projektionsfläche. Zum anderen bin ich ein geschlossenes System und lasse nicht zu, dass etwas im Außen über meine Gefühle bestimmt.

Sie wollen wissen, wie man dorthin gelangt? Dann folgen Sie mir oder vereinbaren Sie einen Termin in meiner Praxis.

Liebe BVG, vielleicht solltet Ihr den Sitz hinter dem Fahrer zum „silent seat“ erklären! Ich liebe Euch dennoch.

Schöne Busfahrt!

Bild: Birk Enwald (Unsplash)

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